Dienstag, 12. August 2008

Hebron – die etwas andere Reiseerfahrung

Diese Stadt in der Westbank ist wohl kein typisches Reiseziel, trotzdem kann man dort sehr gut reisen. Ganz bestimmt wird man viele wertvolle Erfahrungen machen und gastfreundliche Leute treffen.

Die Altstadt von Hebron ist wohl der eigenartigste Ort, an dem ich mich jemals aufgehalten habe. Die meisten Fensterläden und Türen sind verriegelt. Es fahren kaum noch Autos auf den Strassen, nur vereinzelt kommen mir Fussgänger mit gesenktem Kopf entgegen. Ein paar hundert Meter weiter im palästinensisch verwalteten Teil brodelt dagegen das Leben. Die Luft ist erfüllt von Gewürzen und Speisen. Es herrscht, wie überall im Nahen Osten, ein buntes Markttreiben. Nicht so im ehemaligen Herzen der Stadt, welches unter israelischer Verwaltung ist. Dieser Stadtteil ist eine Geisterstadt geworden. Anspannung liegt in der Luft. Normalerweise würde ich rechtsum kehrtmachen.

Hebron ist seit den Osloer Verträgen in zwei Gebiete unterteilt: H2 untersteht der israelischen Verwaltung, wo zirka 400 - 500 Siedler im Stadtzentrum leben und von drei- bis viermal so vielen Soldaten beschützt werden. Hier zeigen sich alle Probleme auf engstem Raum mit denen Palästinenser in der Westbank konfrontiert sind. Diesbezüglich ist Hebron einzigartig. Ein Teil der Geschäfte wurde von der israelischen Armee aus Sicherheitsgründen geschlossen. Andere Geschäfte schlossen ihre Tore wegen den starken Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und den langen Ausgangssperren während der zweiten Intifada. Deshalb kam der Handel im Herzen der Altstadt in den letzten Jahren fast vollständig zum Erliegen. Dieser absurde Ort ist mein zu Hause für drei Monate.

Freiwilligenarbeit in Hebron
Mit meinem Rucksack war ich schon in fast allen Erdteilen unterwegs und die klassischen Sehenswürdigkeiten haben für mich mittlerweile nicht mehr erste Priorität. Viel lieber suche ich andere Zugänge zu Land und Leuten. Deshalb entschied ich mich dazu, in Hebron Friedensarbeit zu leisten. Es sind neben den Einschränkungen der Bewegungsfreiheit vor allem die radikalen, religiös-nationalistisch motivierten jüdischen Siedler, die in Hebron das Alltagsleben der palästinensischen Bevölkerung erschweren. Deshalb begleiten wir vom ökumenischen Begleitprogramm in Israel und Palästina (
www.eappi.com[i]) von Sonntag bis Donnerstag die Kinder der Cordobaschule zur Schule. Regelmässig besuchen wir palästinensische Familien und Geschäftsbesitzer, welche diese moralische Unterstützung sehr schätzen. Oft machen wir Rundgänge in den spannungsgeladenen Stadtteilen um Veränderungen zu beobachten und festzuhalten. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist die Öffentlichkeitsarbeit. Deshalb führe ich zwei- bis dreimal in der Woche eine Tour für Touristen oder Medienleute durch.

Cordobaschule
Jeden Morgen und jeden Mittag stehen wir beim Kontrollposten am Eingang zum israelisch verwalteten Stadtteil und beim Treppenaufgang, der zur Schule hinaufführt. An diesen Orten fanden vor der internationalen Präsenz öfters Übergriffe von Siedlern auf palästinensische Kinder statt. Diese Belästigungen haben seit der Anwesenheit von MenschenrechtsbeobachterInnen an Intensität und Häufigkeit abgenommen. Wir versuchen ausserdem vermittelnd einzuwirken, wenn es zu Problemen mit Soldaten bei Kontrollposten kommt.

Sundus und ihre Freundin Maruaa halten meist auf ihrem Schulweg für einen kleinen Schwatz mit uns an. Am Anfang vergass ich immer wieder den Namen von Maruaa. Als sie mich wieder einmal fragte, wie ihr Name denn sei, sagte ich: „Ich habe zwar deinen Namen schon wieder vergessen, deine wunderschönen blauen Augen werde ich allerdings nie vergessen!“ Darüber musste sie herzlich lachen. Seither neckt sie mich, wenn wir uns begegnen, und ruft mir zu: „Beautiful blue eyes!“. Die blauen und grünen Augen vieler Palästinenser und vor allem der Hebroniten sind wahrscheinlich ein Erbe der Kreuzritter.

Um acht Uhr trinken wir oft Tee mit Reem, der Schulleiterin der Cordobaschule. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die genau weiss was sie will und wie sie es erreichen kann. Ihr Englisch ist hervorragend und sie war schon in vielen Ländern zu Gast. Reem ist ein absoluter Profi, wenn es um Öffentlichkeitsarbeit für die Probleme der Schule und um Sponsorensuche für Verschönerungsprojekte in der Schule geht. Sie fühlt sich mit ihrer Kultur und den Wertvorstellungen ihrer Gesellschaft stark verbunden und kann uns viele interessante Dinge erzählen. Es ist immer wieder ein grosses Vergnügen ihr zuzuhören.

Belästigungen
Hashem Al-Azzah lebt gleich unterhalb eines Containerblocks der Siedler. Er getraut sich kaum noch in seinen Garten hinter seinem Haus zu gehen, um seine Oliven zu ernten, da er befürchten muss mit Steinen oder Abfall beworfen zu werden. Das Ziel der Siedler ist es, die palästinensische Bevölkerung hinaus zu ekeln. Sie glauben, dass Israel inklusive den besetzten Gebieten ihr von Gott versprochenes Land sei.
Wir besuchen Hashem’s Familie regelmässig und bringen interessierte Leute zu seinem Haus, um ihnen die Lebensbedingungen dieser Familie in Tel Rumeida (Stadtteil in H2) zu zeigen. Hashem zeigt jeweils Videoaufnahmen, die Belästigungen durch Siedler dokumentieren, damit sich die Besucher das Leben in einem solchen Umfeld konkret vorstellen können. Mittlerweile wurden alle Familien in diesem Stadtteil von Btselem, einer israelischen Menschenrechtsorganisation, mit Videokameras ausgerüstet. So können Zwischenfälle festgehalten und im Internet veröffentlicht werden. In einem allfälligen Gerichtsverfahren dienen die Aufnahmen auch als Beweismaterial.

Einschränkung der Bewegungsfreiheit
Ein grosses Problem für die palästinensischen Bewohner von H2 sind die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Sie dürfen in diesem Stadtteil nicht mit dem Auto herumfahren. Alle Lebensmittel und Gasflaschen müssen sie zu Fuss den Hügel hinauftragen. Ausserdem ist eine Schliessung des Kontrollpostens meistens nicht vorhersehbar und verunmöglicht in der Folge eine Rückkehr nach Hause.
Nisreen, die Ehefrau von Hashem, erwartet in den nächsten Wochen ihr drittes Kind und die Anspannung ist ihr ins Gesicht geschrieben. In der Nacht, als ihr Sohn Unis auf die Welt kam, wurde ihnen das Passieren des Kontrollpostens verweigert. Um zur palästinensischen Ambulanz zu gelangen, die sie ins Krankenhaus bringen konnte, musste Hashem seine Frau über einen Zaun hieven und durch Hintergärten in die Stadt hinunter tragen. Dieses Erlebnis hat Nisreen stark geprägt und ich kann ihre Befürchtungen gut verstehen. Hoffentlich will das Baby dieses Mal am Tag das Licht der Welt erblicken. Nisreen versucht zwar zu lächeln, aber ich spüre, dass ihr mehr nach weinen zu Mute ist.

Anschluss ans Familienleben
Der Kontakt mit Hashem’s Familie ist nicht nur auf die Arbeit beschränkt. Bei Geburtstagen oder anderen Familienfesten sind wir immer herzlich eingeladen mitzufeiern. Hashem sagte einmal: „Für mich ist es wichtig, dass ihr nicht nur die schwierigen Momente mit uns teilt, sondern auch an den fröhlichen Momenten des Familienlebens teilhaben könnt.“
Einmal haben wir die ganze Familie zu uns zum Nachtessen eingeladen. Am nächsten Morgen während der Schülerbegleitung hat Hashem’s Nichte Sundus mir zugeraunt: „Das Nachtessen war sehr lecker. Ich habe den ganzen Abend ausgiebig genossen. Das erste Mal in meinem Leben war ich wirklich glücklich!“ Diese Worte haben mich sehr gerührt, da ich spürte, dass sie es aus tiefstem Herzen so gemeint hat.

Altstadt
Am Vormittag machen wir oft Rundgänge durch die beinahe ausgestorbene Altstadt, damit die Bevölkerung diesen Ort wieder als Lebens- und Handelsraum wahrnimmt und motiviert wird zurückzukehren. Wenn wir genug Zeit haben, trinken wir im Souvenirgeschäft von Nawaal Tee oder Kaffee. Sie ist eine Friedensaktivistin und verlässliche Informationsquelle für uns. In ihrem Geschäft verkauft sie bestickte Textilien von einer Frauenkooperative aus Dörfern südlich von Hebron. Auch mit anderen Ladenbesitzern pflegen wir regelmässig Kontakt und werden des öfteren zu Tee oder Kaffee eingeladen. Immer wieder werden wir von der unermesslichen Gastfreundschaft der Palästinenser überrascht. So wird unsere Schatzkiste mit Geschichten immer voller und wir fühlen uns je länger je mehr mit den Hebroniten verbunden.

In den ersten beiden Monaten fühlte ich mich sehr verwirrt und fassungslos. Dem Thema Besatzung und deren Auswirkungen auf alle Aspekte des täglichen Lebens konnte ich nicht entfliehen. Es gab für mich keinen anderen Lebensinhalt mehr. Ich erlebte die mentale Belastung mit den vielen hilflos machenden Geschichten als sehr gross. Ich fand kaum einen Weg, um damit umzugehen. Das Leben in der Schweiz schien mir Lichtjahre entfernt zu sein. Später fühlte ich mich sehr wütend und wollte meine Wahrnehmung von der Wahrheit in die Welt hinausschreien. Mittlerweile gelingt es mir mit der räumlichen Distanz wieder besser einen akzeptablen und vermittelnden Ton zu finden, wenn ich über die Zeit als Freiwillige in Hebron berichte.

Reisen in der Westbank
Hebron war einmal eine wichtige Handelsstadt und ein Pilgerort für Christen, Muslime und Juden, da sich nach der Überlieferung hier die Gräber von Abraham, Isaac, und Jakob inklusive diejenigen ihrer Ehefrauen befinden
[ii]. Heute ist es wegen dem anhaltenden Konflikt und den schwierigen Umständen sehr ruhig geworden. Es verirren sich kaum noch Touristen in die geschichtsträchtige Stadt. Besucher sind für die Hebroniten als moralische Stütze und für den wirtschaftlichen Aufschwung, der hoffentlich wieder einmal einsetzen wird, wichtig.

Hilfsbereitschaft
Trotz dieser Tatsachen ist es möglich hier zu reisen und sich sicher zu fühlen. Auf Schritt und Tritt begegnet man sehr hilfsbereiten und freundlichen Menschen. So stehe ich nie lange ratlos an der Strasse, wenn ich nicht weiss, welches Sammeltaxi ich nehmen muss. Die Leute wollen nicht in erster Linie etwas verkaufen, wie das in anderen mehr touristischen Ländern oft der Fall ist. Sie freuen sich einfach über die BesucherInnen, über die Anteilnahme oder das Interesse, das man mitbringt. Manchmal, wenn ich müde bin und meine Ruhe möchte, wünschte ich, die Leute wären weniger neugierig und freundlich. Wenn ich in einem Sammeltaxi irgendwohin fahren will, werde ich immer gefragt, was ich in Palästina mache und meistens entwickelt sich daraus eine Unterhaltung. Das ist wohl der Preis für so viel Herzlichkeit, die ich hier erfahre.

Als Frau unterwegs in Hebron
Solange man den in unseren Augen konservativen Vorstellungen bezüglich der Kleidung nachkommt, wird man als Frau nicht belästigt. Natürlich erregt man als junge Europäerin Aufmerksamkeit. Es gibt wie überall übermütige Jungs, die eine junge Frau erschrecken wollen oder sich zu einem Scherz hinreissen lassen. Auch in Bezug auf die Kleinkriminalität braucht man sich nicht grosse Sorgen zu machen. Diebstahl ist in der muslimischen Welt äusserst verpönt und die kontrollierenden sozialen Strukturen verhindern Übergriffe zusätzlich. Seinen guten Ruf zu verlieren, will niemand riskieren. Zumeist kennt man sich hier oder zumindest die Herkunftsfamilie. So brauche ich beispielsweise nie lange Nachforschungen anzustellen, wenn ich jemanden suche oder einen Kontakt mit einer Person herstellen will.

Reiseführer
Der Reiseführer Palestine & Palestinians von der Alternative Tourism Group (ATG;
www.atg.ps) beleuchtet als erster Reiseführer die palästinensische Seite, Kultur, Religion und Geschichtsschreibung und hat viele praktische Reiseinformationen für faires Reisen in Palästina. ATP bietet selber auch Touren an oder ist Individualtouristen bei der Planung ihrer Reise in den besetzten Gebieten behilflich.

Organisierte Touren
Sehr empfehlenswert und berührend ist eine Tour mit „Breaking the silence“. Israelis, die in Hebron gedient haben, erzählen vom Leben als Soldat in den besetzten Gebieten und den Problemen, mit denen Hebroniten konfrontiert sind (
http://www.breakingthesilence.org.il/tours_e.asp).

Sicherheitsvorkehrungen
Bei der Ein- und Ausreise ist es besser den Besuch in den besetzten Gebieten nicht zu erwähnen. Man soll bei der Wahrheit bleiben, aber die Schwerpunkte der Reise anders darstellen. Man kann auf klassische Touristenziele in Israel verweisen, die sowieso auf dem Programm stehen, oder den Besuch bei Freunden hervorheben. Man sollte bei der Ausreise kein Material mitführen, das auf den Aufenthalt in der Westbank hinweist. Dies würde nur zu langwierigen und unangenehmen Befragungen führen. Wer viel Video- oder Fotomaterial bei der Ausreise mit sich führt, sollte zur Sicherheit alles auf eine CD brennen und diese von Westjerusalem oder Tel Aviv nach Hause schicken.
Ausserdem sollte man ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen, wie z. B. das schweizerische Konsulat über den Aufenthalt in der Westbank informieren (
http://www.eda.admin.ch/eda/de/home/travad/hidden/hidde2/israel.html). Die politische Situation kann sich in Palästina und Israel sehr schnell ändern, deshalb sollte man sich laufend vor Ort informieren. Hilfreich ist es bestimmt, wenn man mit Leuten oder Organisationen vor Ort im Kontakt steht. Gute Informationen liefert die palästinensische Nachrichtenagentur Maan (www.maannews.net/en) oder die israelische Zeitung (www.haaretz.com).


[i] In der Schweiz werden die Freiwilligen von Peace Watch Switzerland (www.peacewatch.ch) rekrutiert und ausgebildet.
[ii] http://de.wikipedia.org/wiki/Hebron

erschienen in "Mein Magazin", April 2009

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